Wahrheit und Lüge
Lüge ich auf der Bühne oder sage ich die Wahrheit?
Ist es nicht auf jeden Fall eine Lüge, wenn ich als Demetrius Helena abweise mit den Worten: »Sag ich Euch nicht die Wahrheit rund heraus, dass ich Euch nimmer lieb und lieben kann?« (vgl. Wiliam Shakespeare ›Ein Sommernachtstraum‹, 2. Aufzug. 1. Szene).
Oder ist die Behauptung, auf der Bühne jemand anderes zu sein, auf keinen Fall als Lüge zu werten, weil sie Teil der Theaterverabredung ist?
Gilt dies auch, wenn ich in einer Aufführung des biografischen Theaters den Text eines anderen Performers spreche, der aus einem Interview stammt? Ist die Lüge dann nicht offensichtlich, weil ich die Erfahrungen, von denen ich vor Publikum erzähle, gar nicht gemacht haben kann? Oder gilt die Theaterverabredung auch, wenn es sich nicht um eine dramatische Figur handelt, die ich verkörpere?
Wird die Lüge also ganz einfach dadurch zur Wahrheit, dass ich sie im Rahmen eines performativen Ereignisses als Wahrheit behaupte?
Kann man also überhaupt lügen auf dem Theater?
Etymologisch hat der Begriff der Wahrheit (l. verus, ahd. war) mit Vertrauen, Treue und Zustimmung zu tun, aber auch mit wahren im Sinne von beachten und behüten, bewahren, was im Neuhochdeutschen auch im gewahr Werden und somit im Wahrnehmen aufgehoben ist. Hier zeigt sich bereits die Nähe zu einer erkenntnisstiftenden Vorstellung von Theater, nicht zuletzt vollzogen über den Vorgang der Wahrnehmung. Die Wahrheit herauszufinden, ist dann als eine Aktivität des Zuschauers definiert. Dieser Vorgang kann auch darin bestehen, eine (offensichtliche) Lüge auf dem Theater als solche zu entlarven – oder sie als Fiktion, als Entwurf von Wirklichkeit zu begreifen.